Interpretation

Die im Folgenden interpretierten capitalen Stanzen stammen zum Teil aus älteren Quellen, zumeist jedoch aus dem durch seine sensationelle Reichhaltigkeit ins Licht der Öffentlichkeit gerückten im letzten Jahre durch Hubertus Röhrer aufgefundenen »Cervidenhandbuch«, einer - apokryphen? - Sammlung bisher unbekannter Vierzehnender-Sonette. Der Referent glaubt anhand der textkritischen Untersuchungen, die hier vorgelegt werden, die Echtheit des Handbuches nicht mehr in Zweifel ziehen zu können.

Maßgebend für unsere Definition des Hirschgedichtes in seiner reinen, unverfälschten Form, bleibt nach wie vor der »Urhirsch«, selbst wenn diese älteste Sammlung nicht länger als Keimzelle aller übrigen Forstlyrik gelten kann.

EIN HIRSCH, und sei er noch so klein,

Ist dunkler als ein Fliegenbein.

In diesem Vers haben wir die Urform, das Hirschgedicht an sich, die reine Verkörperung des Hirschgeistes zu sehen. Formale Kriterien sollen hier zunächst unberücksichtigt bleiben, da sich die gerade im Folgenden als fragwürdig gekennzeichneten Hirschgedichte als formal einwandfrei erweisen werden. Wesentlich ist vielmehr zunächst die Aussage. Als zuverlässiger Prüfstein kann die Bedeutung des ersten Wortes gelten. Der unbestimmte Artikel »ein« hat im echten Hirschgedicht stets die Bedeutung »jeder« oder »der Hirsch an sich«, d.h. er bezeichnet keinen Einzelfall, sondern ein Allgemeingültiges. In vielen entarteten Hirschgedichten dagegen hat er die Bedeutung »ein bestimmter«, »dieser eine«, d.h. er zielt auf einen Einzelfall.

Beispiele

EIN HIRSCH, des Gleichgewichts beraubt.
Sprang ins Labor, was nicht erlaubt.

EIN HIRSCH, bei einer Inspektion,
Entdeckte Zinn im Grammophon.

Verse wie die zitierten können nicht als Hirschgedichte im strengen Sinne bezeichnet werden, wenn wir nicht der Konfusion und dem Dilettantismus in unserer Wissenschaft Tür und Tor öffnen wollen. Die zitierten Gedichte vermitteln eine Nachricht von einer Begebenheit, erzählen eine Fabel, enthalten eine Handlung. - Kriterien, die dem echten Hirschgedicht fremd sind. Bezeichnend ist, daß sie sich des Imperfectums bedienen, während das echte Hirschgedicht eine gültige Wahrheit oder Erkenntnis oder Lehre ausspricht und demzufolge immer im Präsens steht!

Man stelle einmal diesen unsauberen Zwittergebilden einige klassische Hirschgedichte reinster Prägung gegenüber. Der Unterschied springt in die Augen:

EIN HIRSCH, infolge der Struktur,
Schlägt langsamer als Fink und Uhr.

EIN HIRSCH, der schon am Morgen graut,
Ist meistens parallel gebaut.

EIN HIRSCH, bei dem die Kupplung schleift,
Ist meistens noch nicht ausgereift.

EIN HIRSCH, sobald er rigoros,
Ist vorne rund und hinten groß.

Aus diesen Zeilen atmet uns der lauterste Hirschgeist entgegen. Gweihstaengle wirft dem erstzitierten Gedicht vor, daß es insofern nicht völlig auf die konventionelle Logik Verzicht leiste, als sowohl der Fink als auch die Uhr realiter tatsächlich schlagen. Er ist der Meinung, die zweite Zeile müsse lauten

raucht langsamer als Fink und Uhr

Wir distanzieren uns von dieser seiner Ansicht und sehen gerade in diesem fein dosierten Einbezug konventioneller Logik den Reiz des Verses, denn eine allzu konsequent betriebene Absurdität würde nach Kleists Ausführungen über das Marionettentheater schon fast wieder an absolute Logik grenzen. Wie denn ja auch beispielsweise die grammatikalische Logik in keinem der klassischen Hirschgedichte aufgegeben worden ist.

Die zuletzt zitierten Gedichte sind jedes für sich Ausdruck einer großen, bisher niemals ausgesprochenen, ewig unveränderlichen Wahrheit. Jeder Hirsch, der bisher gelebt hat und noch leben wird, schlug, schlägt und wird auch in aller Zukunft infolge seiner ganz spezifischen Struktur langsamer schlagen als der Fink einer- und die Uhr andererseits, wobei unter »Uhr« alle Chronometer, von der Armband- bis zur Kirchenuhr, zu verstehen sind. Diese Erkenntnis wird hier - komprimiert in zwei meisterlich komponierten Zeilen - unverrückbar vor uns aufgerichtet. Der wahre Hirschgeist ist‘s, der hier spricht!

EIN HIRSCH, zumal wenn er Mormone,
Schwimmt besser als zwölf Grammophone.

Dieser Vers hat seinerzeit das Lager der Veterinärphilologen gespalten. Rehbock und seine Gruppe neigten zu der Ansicht, das Gedicht enthalte die Maxime: Jeder Hirsch schwimmt besser als zwölf Grammophone. Hubertus Röhrer und einige Extremisten behaupteten dagegen, dies ließe sich mit Sicherheit nur von einem Hirsch behaupten, der Mormone sei, ein normaler Hirsch könne u.U. auch nur die Schwimmfähigkeit von neun bis zehn Grammophonen erreichen. Der Referent neigt der ersteren Ansicht zu und sieht mit Rehbock in dem »zumal« lediglich einen nebengeordneten Hinweis auf die besonders phänomenale Schwimmfähigkeit der Mormonenhirsche, die es, wie im Urhirsch berichtet, teilweise mit siebzehn bis neununddreißig Grammophonen aufnehmen.

EIN HIRSCH, solang er konsequent,
Zähmt niemals Eimer, wenn er pennt.

Ein auch nur schwer durchschaubares Gebilde. Zunächst befremdet das Wort »pennen«, ein vulgärer Ausdruck für »schlafen, ruhen«, abgeleitet aus dem altenglischen »pen« = »Feder«, ursprünglich: »sich in die Federn legen« - vgl. auch »Pen-Club«, »Pennsylvania« (= »mit Sylvia schlafen«) etc. pp. Das englische »pencil« (heute irrtümlich mit »Bleistift« übersetzt) bedeutet ursprünglich das »Penn-Ziel«, d.h. Frische und Wohlbefinden. Im Rahmen eines Hirschgedichtes mutet das Wort außergewöhnlich an. Siehe Ethymologisches Handbuch zur Cervographie, l. (einziger) Band, Hs. von Zacharias Schaufler und Balthasar Hainläuffer, Wien 1908.

Nun die Frage: Kommt es vor, daß ein Hirsch Eimer zähmt? Offenbar ist dies durchaus üblich, mindestens aber möglich, wenn er nicht pennt, d.h. schläft. Kommt es auch vor, daß ein pennender, d.h. schlafender Hirsch sich der Zähmung von Eimern widmet? Dies ist offenbar nur möglich, im Falle es sich um einen inkonsequenten Hirsch handelt. Da bisher kein Fall bekannt geworden ist, daß ein schlafender resp. pennender Hirsch durch einen Eimer, d.h. ein zur Aufbewahrung und zum Transport meist flüssiger Substanzen dienendes Gefäß, belästigt wurde, besteht logischerweise für einen konsequent denkenden Hirsch auch keine Veranlassung, während des Pennens, d.h. Schlafens, einen Eimer zu zähmen. Hubertus Röhrer geht mit seiner Interpretation entschieden zu weit, wenn er aus diesem Vers die Schlußfolgerung zieht, es müsse demnach auch inkonsequente Hirsche geben. Selbstverständlich ist ein Hirsch niemals inkonsequent.

Die Formulierung »solang er konsequent« besagt soviel wie »in alle Ewigkeit«. Wir kennen diese Umschreibung aus Formulierungen wie »Solange die Sonne sich um die Erde dreht« oder »Solange zwei mal zwei vier sind« etc. Würde der Herr Röhrer etwa aus dergleichen Redewendungen den Schluß ziehen, folglich müsse es möglich sein, daß zweimal zwei irgendwann mal fünf ergibt?

Sehr umstritten sind die folgenden Gebilde:

EIN HIRSCH mit einer Kardanwelle
Döst schmunzelnd auf der Küchenschwelle.
(Oder: »Kirchenschwelle«, in der Handschrift durch Mäusefraß getilgt.)

EIN HIRSCH mit Diplomatentasche
Lockt Bratkartoffeln aus der Flasche.

Die frappierende Ähnlichkeit der beiden Werke, die erstaunlicherweise aus völlig verschiedenen Quellen stammen, sticht sofort ins Auge. Die Frage ist: Sind es Situationsschilderungen, Stilleben, kurz: Berichte über einen konkreten Einzelfall (wodurch sie sich zwangsläufig aus der Kategorie der Hirschgedichte eliminieren würden) oder aber künden sie allgemeingültige Wahrheiten? Hierzu das Urteil eines Experten. Leopold Hirschhorn, der Wiener Zoologe, schreibt zum ersten Gedicht: »Es ist eine physiologische Tatsache, daß sich ein durch eine Kardanwelle angetriebener Hirsch auf einer Türschwelle am wohlsten fühlt. Ob es sich dabei jedoch um eine Küchen-, Kirchen- oder Rathausschwelle handelt, ist v ö l l i g b e l a n g l o s. Daß er dabei schmunzelt, ist naturgemäß häufig, jedoch nicht die Regel. Das Dösen, d.h. ein Zustand halbbewußten Vorsichhindämmerns, ist eine durchaus nicht notwendige, ja nicht einmal häufige Begleiterscheinung«. Unter Zugrundelegung dieser nachweisbaren Tatsachen müssen wir annehmen, daß das Gedicht einen Einzelfall schildert.

Das gleiche gilt für das zweite Gedicht. Selbstverständlich ist ein normal veranlagter Hirsch imstande, mittels einer Diplomatentasche Südfrüchte jeder Art, also auch Brat- oder Röstkartoffeln (sogar Pommes frites) aus einer Flasche hervorzulocken. Daß jedoch jeder Hirsch, der über eine Diplomatentasche verfügt (und derer sind nicht wenig, wie sattsam bekannt) nun tagaus, tagein nichts anderes täte, als Bratkartoffeln aus Flaschen hervorzulocken, ist eine schlechthin unhaltbare These, zumal in diesem Falle Hirsche mit Diplomatentaschen zwangsläufig auf viele Tätigkeiten verzichten müßten, als da sind: Luftschiffe lenken, Junghirsche zeugen, Cembalo spielen und Beifall klatschen. Das dürfte hinreichen, um die oben zitierten Verse als höchst fragwürdige Machwerke zu entlarven.

Nunmehr noch ein Hinweis auf eine Stanze, die sich - zur größten Verblüffung der Experten, - im Anhang oben genannten Handbuches findet und die Cervologie vor völlig neue Probleme stellt.

EIN ELCH in einem Hirschgedichte,
Ist eine peinliche Geschichte.

Das Bekanntwerden dieses Fundes ließ den Draht zwischen Wien und München, den Zentren der europäischen Cervologie, heißlaufen. Man war aufs tiefste bestürzt und konsterniert. Prof. Dr. h. c. Waldemar Brunftschweiß (Hirschvater E.h.) entleibte sich nach Verbrennung seines Lebenswerkes. Wie ist dieses Phänomen zu deuten? Ein ELCH in einem HIRSCHgedicht ist etwas noch nie Dagewesenes und in der Tat im höchsten Grade peinlich. Das Gedicht spricht eine tiefe Wahrheit aus und wäre demnach ein legitimes Hirschgedicht. Es bricht jedoch mit der geheiligten Tradition der beiden Anfangsworte. Ist dies das erste Anzeichen einer heraufdämmernden neuen Epoche? Wird der Hirschgeist durch den Elchgeist abgelöst werden? Oder ist es Anzeichen einer überzüchteten Dekadenz, die beginnt, das Heiligste spielerisch zu ironisieren? Beides wäre von unvorstellbaren Konsequenzen. Es steht jedoch dem Referenten nicht zu, sich in derart gewagte Spekulationen zu verlieren. Es gilt, das Phänomen ruhigen Blutes mit wissenschaftlicher Akribie anzugehen und zu erklären. Hoffen wir, daß dies in naher Zukunft einem unserer Großen gelingen wird!

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EIN HIRSCH, ins Paraplui verbissen,
Übt Cembalo nach Schattenrissen.

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